Den zukünftigen Kopf schon aus dem Bild, die Zehen noch im Hier und Heute; Foto (verfremdet): mspro
mspro fordert sich und uns in seinem Blogeintrag “Archäologie des Heute – das Denken der Zukunft denken” [1] auf, die transitorischen und damit im wahrsten Sinne “vorläufigen” Grundannahmen unserer Ideologien neu zu denken. Sie nicht nur modal als theoretisch gleichberechtigte Prämissen innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Wahrheitssysteme zu betrachten, sondern sie immer historisch als “Snapshots” einer zukünftigen Vergangenheit mitzudenken.
Das ist eine Demutsgeste, die mir im fiebrig tagesaktuellen Netzdiskurs, als dessen prominenten Vertreter ich mspro hier nicht reduzieren sollte, sehr gut gefällt. Mit einem Geschichtsstudium belastet, hat sich mir eine gewisse Demutshaltung, aber auch Fremdheit gegenüber den Menschen vor unserer Zeit prägend eingeschrieben. Gerade unter den Erfahrungen eines hyperbeschleunigten wissenschaftlich-technischen Fortschritts aber bin ich mit meinen jeweiligen Zeitgenossen aber all zu gerne bereit, diese Demut gegenüber den scheinbar so rückständigen, vorwissenschaftlichen im “Tal der Ahnungslosen” Lebenden zu vergessen. Das Hier und Jetzt ist doch immer die Krone der Schöpfung.
Ich entsinne mich einer Empörungsfloskel in meiner Kindheit “… und das im 20. Jahrhundert!”, die diese Gegenwartsdünkel gegenüber den angeblich dunklen Zeitaltern auf einen volkstümlichen Nenner bringt.
“Ich glaube, wir haben unser ‘Heute’ lange genug von der Vergangenheit her gedeutet. Es wird Zeit, es von der Zukunft her zu deuten.”
Nun sind bekanntlich Vorhersagen insbesondere dann schwer zu treffen, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. mspros Forderung, “das Heute von der Zukunft her zu befragen” bleibt ohne aus der Vergangenheit heraus extrapolierte Szenarien ein substanzloses Memento Mori.
Es sei denn, man mache sich die Interpretation von @tristessedeluxe zu eigen, dass mspro tatsächlich Zeitreisen als notwendige Diskurspraktiken propagiert. [2] Weswegen dies alles auch ein PHUTURAMA-Post wert ist.
Die Wahrheit aber, Genosse, ist konkret! Und so ist mspro mutig genug, seiner oben deklarierten Prämisse zu folgen, und heutige Problemfelder auf ihre zukünftige Obsoletheit hin zu skizzieren. Allerdings sind mir die erörterten Kontroversen zu feingranular, als dass ich sie zu Opfern eines epochalen Paradigmen- oder Epistemewechsel erklären würde: “Medienregulierung, Depublikation, Lohnarbeit, Regiert werden” – alles bloße Überbauphänomene, wie ich als guter Marxist einwenden würde.
Die wirklichen Umbrüche betreffen die Wissens- und Wahrheitssysteme
Mit dem Titel seines Beitrags “Archäologie des Heute” bewegt mspro sich schon in der Begriffswelt des frühen Foucaults, der sich umfassend, aber letzlich unbefriedigend mit dem Umbrechen ganzer Wissensformationen beschäftigt hat.
Zwei maßgebliche epistemologische Umbrüche sehe ich allerdings, die unser heutiges Denken und Wissen im Nachhinein marginalisieren könnten:
I. Zum einen die Möglichkeit des Transhumanismus als Resultat der Herrschaft der automatisierten und algorithmisierten und sich von den Menschen emanzipierenden Institutionen. Weit radikaler als von Max Weber ursprünglicher Dichotomie zwischen bürokratischer “Maschine” (as in “Chicago Machine”) und charismatischer Führungsgestalt problematisiert. Hier spielt auch die Singularität, über die @plomlompom und die Matrix-Trilogie mehr zu erzählen wissen, hinein.
Zum Transhumanismus gehört die Relativierung des Menschen im biologischen Re-Engineering als “Spiel[er]material”. Es gehört zu den Vorzügen der deutschen konservativ-verharrenden rest-christlichen Milieus, dass diese Fragen als ethische wahrgenommen und quer durch alle politischen Lager noch verhandelt werden können. Das oft so lächerlich gemachte “christliche Menschenbild” der C-Parteien hat den Vorteil, dass es weitestgehend mit dem allgemeiner gefassten Wertekanon des Grundgesetzes übereinstimmt. Der humanistische Ansatz, dass der Mensch “das Maß aller Dinge” ist, wird im christlichen Denken mit dem Argument “weil Ebenbild Gottes” nur bestärkt.
II. Die Delegitimation der Ratio als Grundlage eines universell durchgesetzten wissenschaftlichen Weltbilds: So sehr die Logozentrismus-Kritik der Poststrukturalisten gerechtfertigt ist – insbesondere, wo sie den Sack schlug, aber den ihn tragenden Esel des “wissenschaftlichen Marxismus” glaubte treffen zu können – , die hochgradige Spezialisierung der Wissenschaftsdisziplinen behindert aber zunehmend ihre weitere Allgemeingültigkeit. Die Kreationisten und Grand Designer-Anhänger sind die Vorboten eines solchen Relativismus.
Als Beispiel sei die Suche nach dem Higgs-Teilchen genannt. Die damit einhergehenden LHC-Experimente sind nur noch in ihrem Unwahrscheinlichkeitsgehalt (Stichwort: “alles verschlingendes Schwarzes Loch”) von gesellschaftlicher Bedeutung. Das eigentliche wissenschaftliche Grundproblem hat für die Menschen “in der Fläche” dieselbe Relevanz wie vormals der mittelalterliche Scholastiker-Streit um die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können.
Was im aktuellen Wissens- und Wahrheitssystem als lächerlichste Spitzfindigkeiten religiöser Verblendung “wahrgenommen” wird, kann in einer zukünftigen Episteme auf die Hohepriester des CERN zurückfallen. Ich möchte nicht mit Butlers Djihad oder der Orange-Katholischen Bibel drohen, aber hinterher ist es vielleicht der “Muhahad’Dib,” der am Lautesten lacht.
[1] mspros Blogbeitrag “Archäologie des Heute – das Denken der Zukunft denken”
[2] @trsitesedeluxe: “@mspro hat das Genre Zeitreise für sich entdeckt.”