“Destination: Tracing Mobility.” Elektronische Netzwerke und mobile Medien in Zeit und Raum.

Aaron Koblins "Flight Patterns" Projekt kurzgeschlossen mit Martin Waldseemüllers Weltkarte von 1507, in der die Neue Welt erstmals als "Amerika" bezeichnet ist.

Alte Stiche von Karten habe ich meist bei Menschen zu Hause gesehen, deren Weltbild mir ähnlich antiquiert erschien wie die Karten und das in ihnen eingeschriebene Weltbild. Auch der darin enthaltenen Verweis auf die große Epoche der europäischen Entdecker und Eroberer der Welt erscheint mir zweifelhaft. Dennoch: Karten sind projizierte Weltanschauung wie gleichsam symbolisch hochverdichtete Weltdurchdringung. Die in der von Waldseemüller [1] gewählte Ansicht entspricht der eurozentrischen Betrachtung mit der klasssich-europäischen Welt Mitte-links und einer orientalischen Erweiterung nach Mitte-rechts einschließlich Indiens und Russlands. Fernost, Subsahara-Afrika und die “Neue Welt”, die in dieser Arbeit von 1507 – nur fünfzehn Jahre nach Kolumbus – erstmals als “Amerika” bezeichnet wird, sind Peripherie.

Das schmale Handtuch von Neuer Welt aus dem Jahre 1507 ist zu Kräften gekommen und sieht sich spätestens seit Ende des 2. Weltkriegs im Zentrum. Wenn jetzt im Umfeld des 19th ASEAN Summit & Related Summits auf Bali [2] über Amerikas Hinwendung zum pazifischen Raum gesprochen wird, zeigt die von Aaron Korbin [3] aus offiziellen Flugdaten der U.S. Federal Aviation Administration [4] für sein Projekt “Flight Patterns” gewonnene US-Karte, dass die atlantischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa dominieren. Ich finde diese Karte aber eigentlich nur schön.

Seit vielen Jahren kreuze ich mit meinen Aktivitäten und Interessen immer wieder einmal die Flugbahnen von Trampoline – Agentur für Kunst und Medien [5], die 1997 von Anette Schäfer und Miles Chalcraft in Nottingham gegründet worden ist und seit dem Jahr 2000 einen weiteren Sitz in Berlin hat – und zwar aktuell in der RS20, dem Domizil des c-base e. V. Am Mittwoch, den 23. November 2011, 19:00 Uhr eröffnen die beiden ihre Ausstellung, Symposium und Open Platform namens “Tracing Mobility – Cartography and Migration in Networked Space” im HKW – Haus der Kulturen der Welt [6], die “das Verhältnis zwischen globaler und individueller Mobilität, zwischen physischer und virtueller Bewegung” aus der Sicht von sechzehn internationalen Künstlern betrachtet.

Da ich allenfalls ein blindtauber Media Art-Aficionado bin und mich gerade mal als Part-Time-Curator für die c-base im Rahmen der transmediale damit ein wenig intensiver beschäftigte, möchte ich hier im Voraus noch nichts sagen, sondern nach Besuch der Veranstaltungen in Ruhe hier meinen Eindrücke schildern. Auf wen ich mich aber schon mal in der Auswahl der Kuratoren für Tracing Mobility freue, ist Aram Bartholl [7], dessen Arbeiten auf immer wieder überraschende Art den gewohnten und schon selbstverständlichen Metaphern der digitalen Welt einen harten bis lustigen Reality Check verpasst.

[1] How to be a Retronaut: “First map to use the name ‘America’, 1507”
[2] ASEAN – The Association of Southeast Asian Nations: “one vision, one identity, one community”
[3] Aaron Koblin: “Flight Patterns” Projekt Website
[
4] U. S. Federal Aviation Administration Website: “Our continuing mission is to provide the safest, most efficient aerospace system in the world.”
[5] Trampoline – Platform for New Media Art
[
6] HKW – Haus der Kultren der Welt: Ankündigung zu Tracing Mobility; Eröffnung: 23. November 2011, 19.00 Uhr
[7] Aram Bartholls phantastisches Portfolio im Netz unter datenform.de

“Simplicissimus.” rotundus’ GroundBot

Nein, dies ist kein weiterer PERRY RHODAN-Eintrag zum Thema "Kugelraumer", sondern der von Popular Science mit einem Best of What's New Award ausgezeichnete rotundus GroundBot.

Ein kamerabestückt vor sich hineiernder Überwachungsball – hier im Bild mit Gumminoppen versehenen All-Terrain-Lauffläche – zeigt vielleicht mehr von der zukünftigen Entwicklung in der Robotik als alle Battlemech-Universen zusammen. Die Designphilosophie des schwedischen Unternehmens rotundus [1] beruft sich auf die “Schlichtheit der Kugel” – aber auch auf eine Wall-E-gemäße Empathie, mit der man der hier im Video herumstreunenden bodengebundenen Überwachungsdrone folgen möchte:

Ganz interessant dabei zur Firmengeschichte von rotundus, die sich, wie der Name schon verrät, ganz der spheroiden bodengebundenen Überwachungsdronentechnik verschreiben haben, finde ich, dass die Grundidee zum GroundBot ein Spin-off der Weltraumfahrt ist:

GroundBot was initially designed for extraterrestrial exploration. The European Space Agency was looking for a vehicle that could explore the surface of Mercury.

The vehicle needed excellent all-terrain performance. It also had to be virtually breakdown-free since the nearest help would have been millions of miles away. So reliability was prioritized.

Although GroundBot never made it into space, our development philosophy has remained the same: to answer real market needs.

Dass die schön simplizistische Konzeption für einen Merkur-Rover jetzt in die unsympathische Wach- und Schließbranche abdriftet, ist bedauerlich, aber andererseits ein schönes Gagdet für zukünftige Intrusion-Film- und Game-Action von 007 über Ocean’s n bis Mission Impossible. Gibt bestimmt gute Soundeffekte, wenn die Dinger zerplatzen.

Komisch, aber dass diese genial simple Modell des monothematischen Start-ups aus Schweden nicht beim Google Lunar X PRIZE [2] mitmacht. Dasselbe Prinzip aus einer nano-leichten elektrostatisch sich entfalteten Metallfolie, vielleicht noch durch eine Art regenschirmartig vertärkten Speichenkinematik neben den beiden Sensor-Pods verstärkt, würde mich begeistern.

So tüchtig die deutsche Part-Time Scientists-Gruppe [3] im Lunar X-PRIZE auftritt, bzw. die c-base OpenMoon-Truppe [4] es vergeigt hat, das GroundBot-Prinzip hat Zukunft.

[1] Offizielle Website von rotundus
[2] Google Lunar X PRIZE
[3] GLX PRIZE Team-Microsite Part Time Scientists
[4] GLX PRIZE Team-Microsite des ausgeschiedenen c-base Open Moon

“Die Exorzistin.” Ducati 1199 Panigale

"Wir haben fertig."

In der industriellen Logik der kapitalistischen Warenfertigung dürfte eine Produktpremiere wie die der Ducati 1199 Panigale [1] nicht passieren. Wie unlängst bei Apples iPhone 4S – und Ducati ist in jeder Hinsicht das Apple der Motorradindustrie – übersteigt das Erwartungsprofil in der Regel die erfüllbaren Produkteigenschaften, um aber im Sinne der oben erwähnten Logik sofort den Raum für weitere Desiderate und damit verbundene Produktkommunikation in der Anhängerschaft zu perpetuieren. Aus der kühlen Sichtweise dieser Praxis unendlich dehnbarer, aber nie wirklich einzulösenden Produktversprechen schert Ducati nun aus – der neue Supersportler aus Borgo Panigale hat die kühnsten Erwartungen [2] der Ducatisti und nicht nur dieser übertroffen. Oder wie es Spiegel Online formulierte: “Ducati schockt die Konkurrenz.”[3]

Nun steckt hinter jeder großen Anstrengung der Versuch einer Kompensation. Auch wenn der Markenname Ducati wohlvertraut und schon lange weltberühmt zu sein scheint – sowie in einem Atemzug mit den Kollegen von Ferrari als Italiens motorsportliches Tafelsilber genannt wird –, ist der Aufstieg zur Rennsportlegende jüngeren Datums. Insbesondere die erst 1988 gestartete Superbike-WM für großvolumige Viertakt-Straßensportmaschinen, die von Ducati einschließlich dieses Jahres 2011 zum 17. Male gewonnen wurde, hat den im Vergleich zu den großen japanischen Konzernen unbedeutenden Manufakturbetrieb aus Bolognas Stadtteil Borgo Panigale zur Weltgeltung verholfen. In diese Zeit fiel die Einführung der revolutionären 916, die insbesondere auf den Einsatz in der SBK-Weltmeisterschaft hin entwickelt worden war und in den Ausbaustufen 996 und 998 (mit der spektakulären Verfolgungsszene in The Matrix Reloaded [4] samt gleichnamiger Dunkelgrün-Metallic-farbener Sonderserie , obwohl im Film die Vorgängerin 996 zum Einsatz kam) zehn Jahre lang in Produktion blieb, was im Umfeld der zwei- bis vierjährigen Produktionszyklen der Supersportler mit Wettbewerbseinsatz wohl einzigartig bleiben wird. Seit 1994 wird Ducati-DNA an dem Erfolg und dem Erbe dieser Maschine gemessen, wie es sonst nur Porsche von ihrem 911er gewohnt ist.

Um die Bedeutung der damaligen Neuerscheinung noch einmal zu vergegenwärtigen, hat unlängst im Vorfeld der 1199-Premiere Ducati News Today noch einmal einen lesenswerten Fahrbericht von 1994 [5] in Erinnerung gerufen. Und in diesem Zusammenhang ist der gleichermaßen lesenswerte Eintrag “How the 999 Nearly Killed Ducati” [6] zu empfehlen, der das bis jetzt nachwirkende Trauma in der Ducati-Mannschaft um die Nachfolge der Stil-Ikone 916 beleuchtet. Technisch wie stilistisch konservativ gestaltet, verhalf dann seit 2006 die 1098/1198 Ducati wieder in die Erfolgsspur.

Best of Breed?

Mit der 1199 Panigale will sich Ducati die Krone in der Supersportler-Kategorie erobern, die sie aufgrund des prinzipiell benachteiligten V-Twins eigentlich gar nicht beanspruchen dürfte. Aber in all ihren Leistungsparametern ist die Neuerscheinung von der Papierform her der bisherigen Benchmark BMW S1000 RR ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Da mit den ellenlangen Insektenfühler-artigen Rückspiegeln auch eine immer von deutscher Erbsenzählerseite her kritisierter Mangel erfolgreich abgestellt sein wird, kann jetzt nur noch der fehlende Soziusplatz – wie hier im Eintrag “Überquadratisch. Praktisch. Gut? Ducatis radikale Superbike-Revolution” vom 28. Juni 2011 [2] vorhergesagt – den Sieg in der MOTORRAD-1000-Punkte-Testwertung gefährden. Wie sehr die Ducati-Mannen über die aus ihrer Sicht völlig belanglosen deutschen Eingaben in Sachen Alltagstauglichkeit gelitten haben müssen, enthüllt dieser MOTORRAD-Videoclip von Ducatis Presse-Launch anläßlich des 69. Salone Internazionale del Motociclo in Mailand vom 7. November 2011 mit dem deutsch sprechenden Marketing-Chef Diego Sgorbati, wenn er bei Minute 8:16 sagt, dass der Erfolg der 2009 vorgestellten Multistrada 1200 für sie endgültig festgestanden habe, als MOTORRAD deren Rückspiegel für tauglich befunden hätte. Sehr sympathisch, der Mann!

Überraschungen beim Superquadro-Motor

In einer professionell ausgespielten Salami-Taktik, hatte Ducati schon vor einigen Wochen die Details zu ihrem neuen Superbike-Kraftwerk enthüllt. Details und Analyse hier bei Asphalt & Rubber [7] vom 10. Oktober 2011. Wie eingangs schon erwähnt, ist es eher ungewöhnlich, das Tor zur “Innovationshölle” so weit zu öffnen, dass man sowohl ein brandneues Triebwerk als auch ein dazugehörendes Motorrad from scratch aus entwirft. Die Besonderheit der 1199 Panigale ist aber, dass Monocoque und Motor aufeinander abgestimmt sein mussten, um das angestrebte, im MotoGP-Rennsport schon eingesetzte, aber dort umstrittene und inzwischen wieder verworfene Konzept auch in der straßentauglichen Serienversion umzusetzen. Rennsportentwicklungen auf die Straße zu bringen ist Ducatis Markenkern und damit ein Quell der Anziehungskraft der Produkte, auch wenn dies mitunter Einschränkungen in der Alltagstauglichkeit bedeutet.

Einige dieser konsequent dem Rennsport entnommenen Detaillösungen ist der noch aufwendiger konstruierte Ventiltrieb, der nach wir vor von Ducati als einzigem Hersteller mit Desmodromik “zwangsgesteuert” wird, jetzt nicht mehr über Zahnriemen, sondern viel präziser über eine Zahnradkaskade getrieben wird. Dies hat wohl auch die ganz erstaunliche Erweiterung des Wartungsintervalls der Mascchine auf 24.000 Kilometer ermöglicht. In Verbindung mit der sehr großen Bohrung der überquadratischen Zylinder wird bei hoher Drehzahl der innermotorische Luftwiderstand zu einem noch limitierenderen Faktor, der durch den Einsatz einer Vakuumpumpe zur Motorinnenentlüftung bekämpft wird. Um dem Anlasser die bisherigen Qualen zu ersparen, gegen die enormen Widerstände der hochverdichtenden Brennräume anzuorgeln, wurde kurzerhand ein alter Trick aus uralten Motorradzeiten – zeitgemäß automatisiert –wieder eingesetzt: nämlich ein Dekompressionsventil für die Startphase, das einen wesentlich kleineren und leichteren Startgenerator ermöglicht.

Man sieht an diesen Beispielen, wie befreiend es sein kann, nach Jahrzehnten der kontinuierlichen Evolution (die bisherigen Triebwerke basieren auf dem 500-ccm-V-Twin der Pantah aus dem Jahre 1979) einen disruptiven Schritt nach vorn zu wagen. In der Tat, geblieben ist motorseitig nur das Grundlayout des bei Ducati “L-Twin” genannten 90°-V2, der aber zur Kompaktifizierung der Massen und des Radstands um weitere 6° aus der Horizontale rücken musste und die schon erwähnte markentypische Desmodromik als Alleinstellungsmerkmal, deren technische Komplikation allerdings witklich Vorteile gegenüber den konventionell federgetriebenen Ventilrückstell-Kinematiken konventioneller Lösungen der Wettbewerber bringt.

Im Ducati-Portfolio spielt der Superquadro momentan noch eine Solistenrolle. Eine auf 849 oder 749 ccm reduzierte Superquadro-Variante für eine “kleine” Panigale-Schwester für 2013 liegt in der Logik der bisherigen Baureihen, aber ein Einsatz in den weiteren Modellen würde das bisher so charakteristische Erscheinungsbild der Ducatis mit ihren typischen Trellis-Stahlrohrrahmen als einem bisher ebenfalls markentypischen Alleinstellungsmerkmal endgültig killen.

Monocoque-Chassis

Hier gibt es wenige Überraschungen. Auf Basis der in der MotoGP schon eingesetzten Technik und der in [2] schon erwähnten Patentanmeldung war es eher die Materialfrage (Aluminiumguss), die für das Monocoque noch offen stand, das gleichzeitig als Airbox dient.

"Double-use:" Die piekfeine Airbox, die eigentlich das Monocoque ist. Foto: Ducati

Die Ironie und wirklich peinlicher Marketing-Fail an dieser radikal rennsportlichen Architektur ist, dass die Rennsportabteilung Ducati Corse in der MotoGP von dieser Lösung unter ihren verzweifelnden Top-Fahrer Valentino Rossi justament mit Markteinführung der 11999 davon Abstand nimmt und zu einer vollkommen konventionellen “japanischen” Alu-Brückenrahmen-Konstruktion zurückrudert.

Für die Fahrbarkeit der 1199 Panigale muss das erst mal gar nichts heißen, da die Monocoque-Materialien einerseits Aluguss ist beim MotoGP-Prototypen eine sehr schwer zu berechnende und bekannter- und eigentlich auch gewolltermaßen unflexible Leichtbaulösung ist und andererseits normalsterbliche Fahrer einer Straßenmachine nie auch nur in die fahrdynamischen Grenzsphären eines Valentino Rossi vorstoßen werden, an denen das Layout scheitert. Allerdings läge es in der Logik der Entwicklung, dass eine spätere 1199 Panigale “R” als SBK-Homologationsreihe ebenfalls ein solches Kohlefaser-Monocoque erhielte. Ducati hat jetzt noch eine komplette Saison Zeit, darüber nachzudenken, da ein Einsatz der 1199 Panigale ein der Superbike-WM erst für 2013 vorgesehen ist.

Mechatronisches Zauberwerk

Durch die kompetente und umfassende Elektronikaufrüstung der 2009 bzw. 2010 eingeführten Modelle Multistrada 1200 und Diavel waren Wettbewerber wie potentielle Kunden des neuen Ducati-Supersportlers eigentlich vorgewarnt. Doch das Elektronikfeuerwerk, das jetzt von der Panigale schon in der Standard-Ausführung abgebrannt wird, hätte auch ich persönlich nicht erwartet.

Es gibt nichts, was die bisherige Benchmark BMW S1000 RR nicht ebenfalls an Bord hätte, die als kompletter Neueinsteiger in das Supersportler-Segment allerdings auch eine Bringschuld zu tragen hatte. Und sogar ein wenig mehr, wenn ich jetzt alles richtig zusammentrage: DDM (Ducati Riding Modes Race, Sport und Wet), ABS, in der 1199 S DES (Ducati Electronic Suspension), DTC (Ducati Traction Control), DQS (Ducati Quickshifter System, also: Schaltautomat), EBC (Engine Break System, ungefähr: Motorschleppmomentkontrolle), RbW (Ride-by-Wire, also: komplett elektronischer Gaszug), DDA+ (GPS-unterstützter Ducati Data Analyzer, also: Fahraufzeichnung- und wertung), adaptive Instrumentenanzeige durch hochauflösendes TFT-Display und ein für Motorräder weltexklusives LED-Fahrtlicht in der S-Version. Darüberhinaus ist der 1199 für einige Zeit exklusiver Einsatz von Brembos Monobloc M50-Vorderradbremsen sowie das Aufziehen des Diablo Supercorsa SP in einer speziellen Hinterraddimension von 200/55 x ZR17 auf natürlich speziellen Marchesini-Felgen vorbehalten. Ach, auch die Ducati-typisch rasselnde Trockenkupplung wurde zugunsten einer konventionellen im Ölbad laufenden Anti-Hopping-Lösung ersetzt.

Also, das ist schon ein ziemliches Komplettpaket, das vorkonfiguriert in den drei übergeordneten Fahrmodi daherkommt, wenn man sich nicht in den Millionen von individuellen Einstellmöglichkeiten vertiefen möchte. Als typisch deutscher Beobachter erscheint mir allerdings der Einsatz des supersportlich-leichten ABS-Systems von besonderer Bedeutung. Denn auch auf einem Supermotorrad ist der Fahrer vor affektiven Schreckbremsungen mit garantiertem Vorderradblock nicht gefeit.

Beauty Queen?

Wie es in dem DNT-Beitrag “How the 999 Nearly Killed Ducati”[6] so schön heißt, ist der Anspruch an Ducatis Königsklasse auch immer, die Schönheitskönigin in der Klasse zu stellen:

Nevertheless whilst the 916 through 998 range was the most attractive sportsbike on the market at the time, the arrival of the 999 passed the mantle of most beautiful to the very stylish Yamaha R1. Sacrilege!!

Da bin ich wie eine wachsende Anzahl von Bewundern der Arbeit Pierre Terreblanches an der 999/749 allerdings schon immer anderer Ansicht gewesen, wobei ich ein wenig daran zweifle, ob es wirklich gutes Karma einbringt, das Design eines Supersportlers am Vorbild der New York Central Commodore Vanderbuilt Stromlinien-Lokomotive aus den 1920ern [8] auszurichten.

Mit der Ducati 1199 Panigale ist Ducati sogar ein größerer und disruptiverer Design-Meilenstein gelungen, denn wie oben beschrieben führte das radikale Techniklayout zu einer Vielzahl neuer teils zwingender Gestaltungslösungen. Das agressive Doppelscheinwerfer-Antlitz der 916 sowie der 1098 wurden wieder aufgenommen und stellen inzwischen eine fast markentypische signature dar, wie sie auch in der Multistrada 1200 zum Einsatz kommt. Die LED-Tagleuchten verstärken den aggressiv-animalischen Look noch in Verbindung mit den aufgeblähten Nüstern der jetzt direkt mit den Leuchten verbundenen Lufteinlässen.

Die nach dem 999-Zwischenspiel wieder eingeführte Einarmschwinge läßt aus von der rechten Fahrzeugseite ein fast frei schwebendes Rahmenheck zu, das durch die für die Massenkonzentration günstige Verlegung der Schalldämpfer unter den Motor allerdings komplett neu gestaltet werden musste. Die Grafik der LED-Rücklichter zeichnet gewissermaßen den Phantomschmerz der jetzt fehlenden Underseat-Auspuffenden nach. Im Übergang zum Motor-Monocoque unter dem Fahrersitz erscheint mir allerdings die Verbindung aus der Perspektive von schräg vorn zu fragil zu sein. Das ganze Motorrad erhält dadurch etwas Kopffüßlerisches – was durch die Insektenfühler von Rückspiegeln nicht gemindert wird.

In der direkten Seitenansicht erscheinen mir die zwei übereinander liegenden horizontalen Trennlinien zwischen Tank und Verkleidung einerseits und der durch den großen Entlüftungsschlitzes eher unelegant. Ein Zeichen dafür, dass hier die Formgebung nicht effektiv ästhetisch gelungen ist, ist für mich, dass – ganz Ducati-untypisch – die in Sonderkriegsbemalung (Abbildungen oben) lackierte 1199 Panigale S Tricolore wesentlich attraktiver als die unifarbenen Schwestern rüberkommt. Dafür ist das Tricolore-Design allerdings besonders rassig, schön und begehrenswert. Und da stehe ich nicht allein:

Ducati’s newly-unveiled 1199 Panigale Superbike has been awarded the title “Most Beautiful Bike of Show” at the EICMA 69th International Motorcycle Show in Milan, Italy. Over 13,800 passionate show visitors participated in the voting organised by Italian motorcycle publication, Motociclismo, with the stunning new Ducati 1199 Panigale attracting a massive 53.4% of votes, followed by the MV Agusta F3 with 17% and the Husqvarna Nuda 900R with 3%. [9]

Es sollte für Ducati der Höhepunkt der 150-Jahr-Feiern der Republik Italien darstellen. Die Präsentation der Ducati 1199 Panigale ging nun ausgerechnet mit Italiens schwärzester Stunde in der Euro-Schuldenkrise einher, die der stolzen Nation fremde Finanzaufseher und ein neue Not-Regierung bescherte. Wie erfolgreich Italien wirklich sein könnte und wie Italien sich selbst wahrgenommen fühlen möchte, wird in diesem ästhetisch wie technischen Meilenstein von Motorrad deutlich. So ist die 1199 Panigale nicht nur “Exorzistin” der Ducati-eigenen Traumas von der bisher missglückten Emanzipation von der Ikone 916, sondern auch Ausdruck einer Absetzbewegung von bisherigen “italienischen Krankheit”, unter der Ducati in den 1990er Jahren noch selber allzu sehr betroffen gewesen ist.

Wem das zu weit her geholt ist dem sei das “Checkmate”-Werbevideo ans Herz gelegt, an dem am Ende nicht umsonst der schwarze König von der roten Beauty Queen von zur Strecke gebracht wird:

[1] Ducatis offizielle Microsite zum 1199 Panigale-Launch
[2] PHUTURAMA: Überquadratisch. Praktisch. Gut? Ducatis radikale Superbike-Revolution
[3] Spiegel Online: “Ducati schockt Konkurrenz mit der 1199 Panigale”
[4] YouTube: “The Matrix Reloaded: Trinity on her Ducati Motocycle (HD)”
[5] Ash on Bikes: “916 Review”
[6] Ducati News Today: “How the 999 Nearly Killed Ducati”
[7] Asphalt & Rubber: “Ducati Superquadro – 195hp, Gear-Driven Cams, Wet Clutch”
[8] jitterbuzz.com: New York Centrals Commodore Vanderbuilt
[9] Ducati News Today: “Ducati 1199 Panigale Pips MV Augusta F3 for Most Beautiful Bike of Show”

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