“Einstürzende Überbauten” – Anmerkungen zu Frank Schirrmachers Die Revolution der Zeit
Frank Schirrmacher arbeitet weiter an seiner Stellung als raunende Kassandra des kommenden digitalen dunklen Zeitalters. In seinem gestrigen FAS-Artikel [1] tarnt er eine allerdings tagesmedienpolitisch motivierte Stellungnahme, in der die Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH Partei ist, mit einem theoretischen Überbau, dessen Grundannahme lautet, dass der gesamtgesellschaftliche Sinnstiftungsapparat durch disparate Zeitwahrnehmungen aus den Fugen gerät.
“Es spricht einiges dafür, dass künftige private, intellektuelle und soziale Konflikte an dieser neuen Unstimmigkeit von Internet-Zeit und Realzeit ausbrechen werden – die Zeitungen und das Fernsehen sind auch hier nur die Vorreiter.”
Wie eingangs schon erwähnt, geht es Frank Schirrmacher um eine Argumentation im Konflikt der Verlage gegen die publizistische Konkurrenz durch die mehr als nur programmbegleitenden News-Webseiten der öffentlich-rechtlichen Sender. Als gefühlt Einziger in der oft so einmütig auftretenden Netzgemeinde, halte ich diese Position für sehr nachvollziehbar und wünsche den Verlegern viel Erfolg.
Die Zeitdisruptionen halte ich aber für kein neuartiges, oder gar grundsätzlich umwerfendes Ding. Der von Schirrmacher beschriebene “Neue-Zeiten-Mensch” begegnet uns schon als Phileas Fogg in Jules Vernes Globalisierungsklassiker In 80 Tagen um die Welt. Und nach wie vor ist die Einführung einer allgemeinen Internet-Standardzeit als Ersatz der GMT bzw. UMT nicht so recht vom Fleck gekommen. Oder haben je Twitter, Facebook und Co. Swatchs “Beat Time” [2] implementiert?
In der gestrigen FAS gibt es auch eine tolle ultrakompakte, aber um so unterhaltsamere und informativere Würdigung anläßlich des Marshall McLuhan-Centennials durch Claus Pias, und auch Schirrmacher bezieht sich auf McLuhans erweiterten Medienbegriff sowie das Verblassen der Gutenberg-Galaxis in der digitale Revolution. [3]
Ich finde, dass eine Antwort auf Schirrmachers Symptombeschreibung eher sein müsste, dass mit dem Aufkommen des digital vermittelten globalen Dorfes mit seinen Kirchturmpolitiken (“Während in Facebook noch Face-to-Face-Videochats gefeiert werden, starten in Google+ schon echte Hangouts.”) die traditionellen Mittlerinstanzen der massenindustriellen Zeitalters kollabieren – die Presse, die Post, die Werbung. Dies findet in der Journalisten-gegen-Blogger-Kontroverse und dem sich ankündigenden Zeitungssterben nur schneller statt als in anderen Sphären wie dem “maschinenlesbaren Bürgeramt” oder der Liquid Democracy, wo Datenübetragungen nicht nur Meinungsäußerungen sind – sondern Hoheitsakte.
Es ist auch nicht wahr, dass die “digitale Revolution” zuerst die Zeitungsverlage gefressen hätte; die inzwischen jahrzehntealten Klagen der “Content Mafia” erst aus der Musikbranche, jetzt auch Film und Fernsehen belegen dies.
Auf dem weltweiten Dorfplatz werden die wichtigen Gespräche zwischen den unmittelbar interessierten Akteure wieder selbst geführt – ohne Agenda-Setting und Filterinstanzen wie Werbung und Presse. Das Zeitalter der Massenmedien wird vergehen “wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.” [4]
Aber eine wichtige Stimme bleibt wichtig, wie diese Reply auf einen Blogeintrag in faz.net belegt.
[1] Frank Schirrmacher, Die Revolution der Zeit, FAS vom 17. Juli 2011
[2] WP: Swatch Internet Time
[3] Claus Pias, Medium, roh und blutig, FAS vom 17. Juli 2011, S. 24
[4] WP: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften (Zitat: S. 462, Frankfurt am Main 1991
July 20th, 2011 at 09:41
[…] in Überschneidung mit seinem sonntäglichen FAS-Artikel [1] zieht Frank Schirrmacher in seinem Artikel Digitales Gedächtnis. Wir brauchen eine europäische […]