“Digitaler Phantomschmerz.” Mein Abschied von Google+
Gestern hatte ich mich spontan auf Grund der veränderten einheitlichen Datenschutzrichtlinie Googles hinreissen lassen, meinen Google+ Account [1] zu löschen. Mir gefiel die damit heraufziehende Problematik ganz und nicht, dass diese Dienste übergreifende Integration zu viel Wissen über mich über sehr unterschiedliche Nutzungsanlässe hinweg zusammenbringt und möglicherweise von Google gegen meine Interessen verknüpft wird.
Spätestens seit sich Googles Geschäftsmodells als das eines “Reclamebureaus” heraus kristallisiert hat, habe ich mich der weiteren Dienste eher selten und in der Regel anonym bedient (Maps, Docs etc.). Die dieser Tage oft angesprochene und zur Löschung empfohlene individuelle Web-History hatte ich nie aktiviert, so dass alle möglichen Einträge nur gerätebezogen und damit weniger valide auf mich rückbezogen werden können </naiv>. Googles Ökosystem zentriert sich um die für uns Nutzer unangenehme Frage, wie Mountain View seinen werbetreibenden Kunden diese à point zuliefern kann. Dabei haben sich so interessante Spezialdienste wie Real-time-bidding [2] etabliert, die für mich nach dermaßen abgefahrener Science Fiction klingen, wie es sich nicht einmal William Gibson vorzustellen vermocht hatte. In dieser allgemeinen “If You’re Not Paying for It; You’re the Product”-Geschäftsmodellwelt tut sich eine immer weiter klaffende Schere zwischen unseren Nutzeransprüchen und der notwendigen Refinanzierungsstrategie der Anbieter auf, so dass ich einmal fragen möchte: Warum will Google (Twitter, Facebook etc.) mich denn nicht als (zahlenden) Kunden?
Der gestrige “Downgrade” meines Google-Accounts hat mich nachdenklich werden lassen ob des “digitalen Phantomschmerzes”, den ich mir jetzt mit dem endgültigen Verlust meiner akkumulierten Google+ Einträge aus immerhin einem halben Jahr eingehandelt habe. Google+ war für mich nur ein lauwarmer sozialer Zweitspielplatz, der mich zunehmend belastet hatte, aber wie abhängig bin ich dann vom wirklich intensiv genutzten Twitter? Es ist immer nur halb im Scherz gesprochen, wenn ich beim Evangelisieren sage: “Twitter hat mein Leben geändert.”
Gestern wollte ich mit Google Schluss machen (es hat nur zu Google+ gereicht – aus Gründen) – und trotzdem hatte ich den Anflug einer (natürlich auch narzisstisch geprägten) Depression wie nach einer echten Trennung. Juristen kennen in ihrer formalen Kategorisierung die besondere Problematik von Dauerschuldverhältnissen wie Miete, Ehe, Arbeit (für die es zum Teil spezialisierte Gerichtsstände gibt), Versorgern wie Kabel-TV-Anbietern, Gas-, Wasser, Stromlieferanten, Telefon- und Internet-Providern, Banken und Versicherungen oder von Kindheit oder Jugend an organisierten Partei- oder Religionszugehörigkeiten, aber inzwischen gehört auch die Integration in ein sozialen Netzwerk wie Facebook, Twitter oder Google+ in diese Kategorie. Es hat damit eine existenzielle “Stickiness” erreicht, die ich für mich persönlich erst gar nicht für möglich gehalten hätte.
Das heißt, diese sozialen Netzwerke sind mir sehr wichtig, wichtiger als viel andere Dinge, für die ich regelmäßig Geld zahle, und wahrscheinlich geht es vielen so. Warum also die Verhältnisse nicht vom Kopf auf die Füße stellen und Kunde werden – und nicht deren Produkt bleiben? Dafür müssen die marktbeherrschenden Gratisdienste ihre unentgeltlichen Leistungen einschränken (oder vielleicht sogar von Staatswegen dazu gezwungen werden) und attraktive Kunden-Upgrades anbieten, die mich von der ganzen persönlichen Entäußerung gegenüber Dritten frei stellen und mir für faires Geld die von mir wirklich gewünschten Dienstleistungen wie Suche, Routen, Netzwerkkommunikation liefern.
Eine Kontigentierung von Leistungen könnte darüberhinaus das angemessenes Preisbewusstsein auf der Nutzer-/Kundenseite für die gebotenen Dienste wiedererwecken. Denn jetzt sind die Carbon-Footprints einer jeden Suchanfrage, einer jeden abgeschickten E-Mail oder einesjeden Facebook-Likes nur virtuelle Erinnerungsposten in den Schlechtes-Gewissens-Bilanzen der Öko-Lobbys. Die vermeintliche Gratisnetzkultur, die uns Nutzer im Moment auf unheimliche Weise hinterrücks in Rechnung gestellt wird, operiert damit doch zu weiten Teilen nach Dumping-Prinzipien, die in der “Realwirtschaft” schon zum Teil seit über einhundert Jahren als gegen die guten Sitten, gegen den lauteren Wettbewerb und gegen den Verbraucherschutz verstoßend geächtet und sanktioniert werden.
Darüberhinaus erzielen die sozialen Netze eine täglich routiniertere Loyalitätspraxis, die die mich umgebenden staatlichen Instanzen, die (Stichwort: E-Government) als Verwaltungsapparate auch zügig zu IT-Infrastrukturdiensten mutieren werden, gar nicht mehr aufzubringen vermögen. Die Herausforderung der konventionellen nationalstaatlichen Bindungskräfte durch die Macht der sozialen Netze ist gar nicht deren aktuelle Organisationsmacht für zivilgesellschaftliches Aufbegehren wie im Arabischen Frühling, sondern ihr Potential, neue transnationale Loyalitätsgemeinschaften von politischer Wucht zu etablieren, die mich historisch an die Rolle der katholischen Kirche (Stichwort: Kulturkampf) bzw. später der internationalen Arbeiterbewegung und – tagesaktueller – an die den multinationalen Konzernen zugesprochene Machtfülle erinnern.
Der Film 8th Wonderland [3] hat dieses Unbehagen ebenso aufgezeigt wie die jüngst wohl von Facebook selbst (meiner völlig ungestützten Vermutung nach) unterbundene Aktion von Tobias Leingruber in Kooperation mit Supermarkt Berlin, Facebook ID-Cards [4] auszugeben. Das soziale Netzwerk möchte sich lieber unterm Radarschirm der politischen Aufmerksamkeit bewegen.
Hier der Trailer, den ich für ganz schön schmissig halte und nach den ganzen Wikileaks- und Anonymous-Kämpfen für mich fast schon authentisch wirkt:
[1] PHUTURAMA: “Good bye and thank you for the GIFs!” – Oder warum ich mein Google-Konto auflöse]
[2] WP: Real-Time-Bidding
[3] WP: 8th Wonderland (offenbar so schlecht, dass WP ihn schon als Löschkandidaten ausgemacht hat. Ich hatte den Trailer in guter Erinnerung.)
[4] Dressed like Machine: Ersetzt das den Ausweis? Die Facebook ID Card
Der Link zur Begleitillustration von Mœbius’ “Upon A Star”: Gesehen bei “quenched consciousness” aka theairtightgarage.tumblr.com.
March 2nd, 2012 at 08:47
Mein theoretisches Problem mit den Google-AGB-indizierten Account-Löschungen ist vor allem, dass man hier ganz offenbar mit zweierlei Maß misst. Während man bei Facebook, das ein ähnliches Spektrum an Funktionen anbietet (Content, Suche, Mail, Chat, Werbung) von vornherein akzeptiert, dass es Daten zusammenlegt und dies durch Like-Buttons und die neuen Actions noch viel weitreichender tut, lässt man Google diesen Schritt nicht durchgehen. Etwas platt spitzfindig: Du postest in Deinem Facebook-Profil den Artikel zum AGB-indizierten Löschen Deines Google+-Kontos, wobei man zumindest zugeben muss, dass die AGB-Aktion deutlich offener war, als bei Facebook. Hier vermute ich auch den Call-to-Action: Das laute Ankündigen der neuen AGBs, in denen auch relativ unverblümt steht, was sie tun werden gepaart mit der Tatsache, dass sie es bisher nicht getan haben, scheint einen mehr zum Account-Löschen zu bewegen, als die Tatsache, dass Facebook dies schon immer tut und sich deutlich bedeckter hält, dies zu kommunizieren.
Ich fände es übrigens auch gut, die Möglichkeit zu haben, für manche Dienste Geld zahlen zu können. Den einzigen Unterschied, den ich bisher gefunden habe, ist Google Apps mit 40 USD für ein Mailkonto pro Jahr, mit zumindest diesem Unterschied:
“Beachten Sie, dass in Google Apps for Education und Google Apps for Business mit deaktivierten Anzeigen kein anzeigenbezogenes Scannen oder Verarbeiten erfolgt.”
March 2nd, 2012 at 08:47
p.s.: Mal wieder ein perfektes Bild zum Artikel.
March 2nd, 2012 at 14:16
@ccm: Die Datenschutzrichtlinie war wirklich nur der ausschlaggebende Faktor, das für mich hindümpelnde Google+ aufzugeben, um den Kopf frei zu haben. Persönlich habe ich mich von der “Datenkrakenhaftigkeit” gar nicht bedroht gefühlt. Und wie gesagt, das sich kaum verhehlende “Schurkengebaren”, dass uns wenigstens anständig hinterrücks verarschen will, ist mir auf eine diagonale Art sympathischer als das verlogene “Don’t be evil”-Getue von Google.
Dass jetzt Google für seine Datenschutzintegration eine braunhaltige Brise ins Gesicht geweht bekommt während Facebook es nach wie vor klandestin versucht, ist für mich persönlich egal, da meine Meinung über Facebook sehr klar ist.
Aber ich habe Google zumindest eine Zeitlang vertraut und bin deshalb umso schwerer enttäuscht.
Aber solche Stichtage wie 1. März 2012 sind ein guter Anlass – letztlich vielleicht auch für Google selbst – eine “Portfoliobereinigung” unter der Nutzerschaft zu erreichen.
Ganz ist das nicht gelungen, Google ist inzwischen zu wichtig, als dass ich mein gregorsedlag@googlemail.com verlustig gehen wollte.
Die Ironie ist aber dabei, dass ich bei Facebook die GMail-Adresse als Erst-Account angegeben hatte, und es mir nicht gelungen ist dies zu ändern. Das heißt, die beiden übelsten Datenkraken spielen jetzt Ping-Pong mit meinen personenbezogensten Datensätzen, da ja jede Freundschaftsanfrage und jedes Like (und anderes) als Mail in meinem Google-Account aufschlägt.
Klumpenrisiko, galore!